Mitten auf der Durchreise werden wir zum Anhalten gezwungen. Wir befinden uns noch immer im Yosemite Nationalpark, doch unser Ziel liegt eigentlich außerhalb: die Geisterstadt Bodie.
Ein Bericht über die Reisehindernisse.
Der Highway 120 wird an diesem Tag den Weg vorgeben. Vom Westen des Yosemite Nationalparks führt er uns als Tioga Pass einmal quer hindurch, bis wir im Osten bei Lee Vining auf den Highway 395 wechseln werden. Doch bis dahin ist es ein langer Weg: nicht nur entfernungstechnisch, sondern auch zeitlich. Zahlreiche herrliche Wegpunkte lassen uns öfters anhalten als wir gedacht haben.
Anfangs kommen wir noch gut durch, zumindest bis zum Olmsted Point, gute 7,5 Meilen Luftlinie vom Yosemite Village entfernt. Vor uns liegen Blicke über die felsige Granitlandschaft des Parks, wobei insbesondere der Clouds Rest und die Nordseite des Half Domes unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht – sind sie doch schließlich auch die markantesten Punkte, die man schon gleich beim Parken des Fahrzeugs erblickt.
Viel mehr interessiert uns dann jedoch etwas, was sich nur dezent hinter den Baumwipfeln auf der hinter uns liegenden Seite zeigt: das türkisblaue Wasser eines Sees vor den schroffen Felsen der Sierra Nevada.
Was wir bislang nicht wussten: der Tioga Pass führt uns direkt am besagten Wasser vorbei – dem Tenaya Lake. Spontan und ohne zu Zögern halten wir auch hier wieder an. Belohnt werden wir mit glasklarem Wasser und entspannter Idylle. Die umliegenden Granithügel fügen den See in einem wunderschönen Rahmen ein. Hier, auf fast 2.500 Metern Höhe, scheint die Welt in Ordnung zu sein. Natur pur – und Zeit, die Natur zu genießen. Wir sitzen auf einem der großen Steine am Ufer und lauschen der Ruhe, die nur von vorbeifahrenden Autos unterbrochen wird. Fluch und Segen zugleich – ohne die Straße hätten wir nie hierher gefunden. Dabei kann man nicht nur einfach hier auf einem der Steine sitzen und die Ruhe genießen: auch Angeln, Kajak fahren oder Stand-Up-Paddeln sind möglich.
Back on the road again. Nach nur wenigen Meilen ändert sich das Bild völlig. Die teilweise kahlen Felsen verschwinden allmählich in die Ferne und die Landschaft abseits der Straße, bislang gesäumt von Tannen, wird plötzlich weit. Vor uns taucht eine riesige Ebene auf, inmitten der eben noch so kargen Landschaft: Toulumne Meadows. Im Vergleich mit den vorherigen Aussichten eine Zäsur. Eine derartige Ebene hätten wir nicht erwartet.
Toulumne Meadows ist ein perfekter Ausgangsort für Wanderungen durch die herrliche Natur und schweißtreibende Klettertouren auf die umliegenden Berge. Selbst im Sommer behalten einige hiervon noch ihr Schneekleid vom vorangegangenen Winter, während die Ebene in sattem Grün einen Kontrast setzt. Entlang der Ebene findet sich auch der eine oder andere idyllische Ort zum Anhalten. Fast nebenbei stolpern wir dabei über einen kleinen See direkt am Tioga Pass, der mit seiner einmaligen Spiegelung zum Anhalten zwingt.
Die grüne Ebene lassen wir nun trotz aller Schönheit hinter uns zurück. Vor uns liegt noch über eine Stunde Fahrzeit bis zur Geisterstadt Bodie, stets begleitet durch die faszinierende Bergwelt des Yosemite Nationalparks und letztlich über den Highway 395. Im Nachhinein betrachtet liegt der landschaftlich schönste Streckenabschnitt des Tioga Passes nun direkt vor uns, aber zugleich auch außerhalb des Parks: ungefähr eine Meile vor dem Tioga Lake passieren wir die gleichnamige Toll Plaza und damit das Ein- und Ausgangstor zum Yosemite Nationalpark. Die Lage ändert aber nichts daran, dass die Gegend zwischen dem nun vor uns liegenden Tioga Lake und dem Örtchen Lee Vining das persönliche Highlight der Fahrt über den Tioga Pass ist.
Nur wenige Schritte entfernt von einem kleinen Parkplatz am steinigen Rand der Straße schweifen meine Blicke über den Gletschersee. Eingebettet zwischen grünen Tannen und schwach rötlichen, fast schon erdfarbenen Felsen des steil aufragenden Berges im Hintergrund liegt der tiefblaue See vor mir. Nur ein paar weiße Schönwetterwolken sorgen für einen wirklichen Farbkontrast. Etwas karger zeigt sich der Ellery Lake, der nach kurzer Fahrzeit auf der rechten Seite erscheint. Der Baumbestand am Ufer ist hier nicht ganz so üppig wie noch zuvor, allerdings beeindruckt er mit der greifbaren Nähe zu den umliegenden Bergen der noch immer schneebedeckten Sierra Nevada.
Kaum wieder im Auto setzen wir erneut den Blinker zum Anhalten. Zu unserer rechten Seite öffnet sich die Landschaft und gibt den atemberaubenden Blick in den Lee Vining Creek Canyon frei. Ein kleines und leicht zu übersehendes Band führt im unteren Drittel der Berge entlang: der Tioga Pass. Autos, Wohnmobile und Busse sind nur winzige Punkte und zeigen die dramatischen Größenunterschiede im Vergleich zur Natur.
Ein bisschen mulmig ist er schon, dieser Streckenabschnitt. Seit unserem Halt am Ellery Lake geht es mit einem stetigen – und nicht zu unterschätzenden – Gefälle herunter nach Lee Vining. Leitplanken entlang der steil abfallenden Schlucht gibt es kaum, stattdessen soll eine rund 30 Zentimeter hohe und nicht sonderlich breite Aufschüttung von losen Steinen die Fahrt nach unten verhindern. Sehr vertrauenserweckend. Nicht. Zumal es auch ab und an Spuren gibt, die bedrohlich nahe am Abgrund entlang führten und scheinbar im letzten Moment wieder zurück auf die Straße gekommen sind.
Endspurt.
Irgendwo aus den Tiefen meines Gedächtnisses schnappe ich plötzlich das Word „Fading“ aus Fahrschulzeiten auf – das Nachlassen der Bremskraft bei längerer Betätigung der Bremsen. An dieser Stelle bin ich froh, dass unser Mietwagen vom Typ Toyota Corolla einen speziellen Gang hat, der beim Rollen verstärkt die Motorbremse nutzt und somit den Drang, auf die Bremse zu treten, reduziert.
Gute neun Meilen geht es auf der Strecke vom Ellery Lake nach Lee Vining steil bergab. Die tollen Aussichten lassen es dabei aber eher länger erscheinen, weil man an nahezu jeder Haltemöglichkeit anhalten will und es auch tut. Schließlich wird die Straße flacher und zeigt wieder erste Anzeichen der Zivilisation. Vorbei die Zeiten karger und zerklüfteter Felsen, von tiefen Geländeeinschnitten und einem bedrohlich wirkenden Straßenrand. Als nach einer langgezogenen Linkskurve allmählich der Mono Lake auftaucht, wissen wir beide:
Geschafft. Der Tioga Pass ist bezwungen.
Vom Abzweig der Crane Flat Gas Station im Yosemite Nationalpark bis zum Aufeinandertreffen des Highway 395 bei Lee Vining haben wir rund 59 Meilen (94 Kilometer) auf der Tioga Road zurückgelegt. Neunundfünzig Meilen vorbei an hohen Berge, klaren Gletscherseen und einer weiten Ebene, die gänzlich überraschend vor uns aufgetaucht ist. All das umrahmt von den Hügeln der Sierra Nevada im östlichen Kalifornien, im Westen der Vereinigten Staaten von Amerika.
Das, was im Grunde nur als Durchreise auf dem Weg nach Bodie geplant war, ist am Ende des Tages fast zu einem eigenen Reiseziel geworden. Momente wie diese machen eine Reise aus. Hinter jeder Kurve des Unbekannten vermag sich etwas verstecken, was einen zum Anhalten bringt – und manchmal auch ins Schwärmen.
Danke dafür, Tioga Pass.
Tell everybody I’m on my way
New friends and new places to see
With blue skies ahead yes
I’m on my way
Phil Collins – I’m on my way
[…] die ersten Häuser der Geisterstadt Bodie auftauchen. Nach der Anreise via Gegenwart und über den Tioga Pass kann nun die Reise in die Vergangenheit […]