Szenenwechsel.
Die Ostsee wird wilder.
Der Strand wird gröber.

Wir werden von einer unfreundlichen Atmosphäre begrüßt: Einsamkeit am Parkplatz, Leere im Hafen, Trostlosigkeit am Ortseingang. Ungemütlichkeit liegt in der Luft: man spürt noch den Regen, der vor kurzem übers Land gezogen ist, dazu weht ein kalter, fast dauerhaft anhaltender Wind. Man könnte meinen, der Ort Gedser möchte keine Besucher empfangen und wehrt sich, so gut er kann. Von der für Dänemark so typischen »Hygge« ist derzeit nur wenig zu sehen, sieht man einmal von dem Gefühl ab, wie die kuschlige Kapuze am Kopf die Kälte abhält. Doch wir wollen dem Ort und seiner Küste eine Chance geben. Vor zwei, zweieinhalb Jahren hat er uns schon einmal positiv überrascht. Damals im Sommer, jetzt hoffentlich auch im Winter.

Unter unseren Füßen knirscht der Kies spürbar, doch der kalte Westwind trägt die Geräusche direkt fort. Auf den Holzstegen im Lystbådehavn ist es etwas weniger windig, aber paradiesisch sieht es dennoch nicht aus. Von den sonst zahlreichen Segelbooten liegt kaum eines im Wasser, nur ein altes Boot am Ende des Steges schaukelt behäbig hin und her. Es wirkt zurückgelassen.

Einsamkeit

Leere im Lystbådehavn von Gedser

Ein Wellenbrecher aus großen, aufgeschütteten Felsen trennt den Hafen vom offenen Meer. »Færdsel på bølgebryderen på eget ansvar!«, steht auf einem Schild davor. »Das betreten des Wellenbrechers ist auf eigene Gefahr!«, so die deutsche Übersetzung. Immerhin kein Verbot. Doch es gibt schöneres, als den Spaziergang hier abzubrechen und mit irgendwelchen Verletzungen ins Krankenhaus zu müssen. Einfach den Moment genießen, zum Beispiel.

Lenkt man den Fokus weg von den Gefahren, so überwiegen die maritimen Eindrücke. Der lebhafte Wind treibt den Geruch von Seetang in unsere Nasen. In rhythmischen Abständen landen die Wellen an Land. Ein fast schon musikalisches Geräusch erklingt, wenn das Wasser die Steine am Strand gegeneinander drückt und Stück für Stück abschleift. Beim Blick gen Ostsee, in die Richtung des Windes gerichtet, fällt das Atmen schwer. Beim Blick zurück, weg von den Wellen und der Weite, ist es angenehmer.

Währenddessen fällt mir ein anderes Schild in die Augen.

Wellenbrecher

Ein Hinweisschild. Kein Verbot, kein Gefahrenhinweis, stattdessen Informationen über das Naturschutzgebiet »Kroghage«, das sich hier am südöstichen Zipfel der Halbinsel Falster befindet. Ein schmaler und matschiger Weg führt den kleinen Hügel neben uns hinauf. Die Aussicht auf windgeschützte Wege zum Aufwärmen der Hände und des Körpers sind verlockend, sodass wir kurzerhand den Aufstieg wagen. Für einen kurzen Moment wirkt es, als hätten wir die Ostsee verlassen. Wir sind umgeben von knorrigen Bäumen und blätterlosen Büschen. Von Wind und Wellen ist nichts mehr zu hören und zu spüren. Erst ein paar Schritte weiter öffnet sich der Weg und gibt den Blick wieder frei auf die Flora der »Kroghage«, die kleinen Seen und die ungleich größere, teilweise gischtbedeckte Ostsee. Der Weg schlängelt sich in südlicher Richtung durch das Naturschutzgebiet, vorbei an Sträuchern, Gräsern und kleineren Bäumen. Vorbei am hölzernen Unterstand, dann immer geradeaus, zum Strand.

Es ist schon etwas suspekt. Um uns herum Natur pur, könnte man meinen. Nicht einmal 200 Meter Luftlinie hinter uns dagegen trostlose Asphaltwüste: der Fährhafen und seine zwanzig Wartespuren sorgen für einen grauen Kontrast, der glücklicherweise nur aus der Vogelperspektive zu sehen ist. Apropos Vögel: von ihnen war kaum etwas zu sehen. Nur Möwen und ein, zwei andere, die den Winter in ihrer Heimat verbringen.

Zurück mit der Nase im Wind und den Augen am Strand. Feiner Sand ist seltener geworden, dafür gibt es wieder Steine in allen Formen. Noch dazu: Seetang im Übermaß, angespült in den letzten Tagen. Während wir so durch den Sand stapfen rauscht ein Kitesurfer heran. Für ihn sind die Bedingungen optimal.

Wenige Minuten später wird er wieder an uns vorbeirauschen.

Naturschutzgebiet »Kroghage»

Natur und Mensch

Vier Kilometer weiter.

Gedser hat sich noch immer nicht mit Besuch angefreundet. Es ist windig und bedeckt. Am Parkplatz zeugt die riesige Pfütze noch von den zahlreichen Tropfen, die im Tagesverlauf noch vom Himmel fielen. Der Boden neben dem Weg ist aufgeweicht. Aber die Stimmung passt. Wind, Kälte, die Unendlichkeit des Meeres. Heute ist es nur noch eine Steilküste, die von der ewigen Erosion und der hungrigen Ostsee Stück für Stück abgenagt wird. Früher hingegen war hier noch mehr Land. Sichtbar wird dies vor allem, wenn man sich der Klippe nähert. Wie aus dem Nichts tauchen Überreste aus hartem Beton auf, die im Laufe der Zeit vom Meer verspeist wurden: Teile der ehemaligen Marinestation Gedser. Erinnerungen an die Zeit des Kalten Krieges am südlichsten Punkt Dänemarks, an der südlichsten Spitze Skandinaviens.

Eine gewisse Kälte strahlt der Ort auch heute noch aus. Ob es am Wetter liegt oder doch an der Vergangenheit? Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Teil aus beidem. Dennoch bin ich gerne hier. Es tut gut, sich einfach mal durchpusten zu lassen. Dazu die Blicke weit über die Wellen und hinauf zu den Möwen, die trotz der Böen elegant durch die Lüfte gleiten. Den Moment genießen, mit dem, was dieser gerade bietet. Die Vorfreude auf das, was der Tag noch bringen wird. Kleinigkeiten werden zu Freuden.

Und wie von Geisterhand zaubert die Natur dann noch ein herrliches Bild auf die Leinwand vor unseren Augen. Die Spiegelung des bevorstehenden Sonnenuntergangs auf den wilden Wellen der Ostsee. Einzelne Strahlen, die aus den Wolken herab auf das Wasser reichen und den Horizont erhellen. Es ist nicht der schönste Sonnenuntergang. Doch er rundet den Tag ab.

Gedser beweist, dass es doch nicht so ungastlich ist.
Die »Hygge« ist zurück.
Man muss sie nur finden.


After all of this time
After all of these seasons
After your one decision
To go to the water for reason
Now it’s only the ocean and you
Jack Johnson – “Only the Ocean”

Strandtreppe

Alte Bunkeranlagen

Ostsee

Weitere Informationen über Gedser: